Über wen reden wir, wenn wir über ‚Flüchtlinge‘ sprechen? Dies ist keineswegs eine abstrakte philosophische Frage, denn obwohl der Status des Fliehens keinesfalls wünschenswert ist, so sind mit dem Status des ‚Flüchtlings‘ viele Privilegien verbunden. Dies kann zum Beispiel erklären, warum zu Beginn des Kriegs gegen die Ukraine viele rechte Politiker:innen und Kommentator:innen ihr übliches Narrativ über „Wirtschaftsflüchtlinge“ differenzierten und anfingen, über „echte Flüchtlinge“ aus der Ukraine zu sprechen – denn die Anerkennung des Fluchtstatus ist die Voraussetzung für Schutz. Noch bevor man zum Anlass des Weltflüchtlingstags über das Problem von Rassismus und Diskriminierung gegen Flüchtlinge sprechen kann muss daher erst mal festgestellt werden wem dieser Titel überhaupt zuteilwird, denn dann wird man bemerken, dass die Probleme bereits bei diesem Prozess beginnen.
Dies fängt bereits beim Fluchtbeginn an. Entgegen der gängigen Annahme, dass der Klimawandel, Krieg, Hungersnöte oder autoritäre Unterdrückung „Fluchtursachen“ sind, muss man feststellen, dass solche und ähnliche Bedrohungen keinen Fluchtautomatismus auslösen. Denn von zwei Menschen die in der selben Stadt, im selben Haus, leben, kann sich eine Person für die Flucht entscheiden und eine Andere für das bleiben; vielleicht weil sie für ihre Eltern sorgen muss, weil sie sich nicht vorstellen kann ihre Heimat zu verlassen oder weil sie einfach nicht genug Geld hat um den Transport zu bezahlen, vermutlich aber aus einer Kombination vieler vielfältiger Faktoren. Gleichermaßen ist Flucht nicht automatisch eine geplante und bewusste Entscheidung – Eltern können zum Beispiel die Reise für ihre Kinder organisieren und sie auf den Weg schicken, ohne dass die Kinder sich darüber bewusst sind, dass dies eine Flucht ist. Trotz dieser und vieler weiterer Nuancen wird die Person, die flieht wird dann zuerst als „IDP“ – als „internally displaced person“ – kategorisiert und erst nach dem Überqueren einer Staatsgrenze kann sie formal „Flüchtling“ genannt werden, denn das ist die rechtliche Definition. Ob sie es jemals schafft, als „asylsuchende“ Person kategorisiert zu werden ist nicht zuletzt aufgrund gängiger Pushback-regimes nicht gegeben, ganz zu schweigen der offiziellen Anerkennung eines Schutzstatus. Doch was ist mit der Person, die blieb? Warum gibt es für sie keine Anerkennung besonderer Schutzwürdigkeit obwohl sie der selben Bedrohung ausgesetzt ist? Ist das Leben der Person, die das Haus verlässt, schützenswerter als von der Person, die bleibt?
Nun kann man sagen, Asyl ist nicht der richtige Mechanismus um Menschen zu schützen, welche trotz Bedrohung nicht fliehen. Doch durch dieses Schubladendenken wird die Ungerechtigkeit menschlichen Leidens nicht gemildert und die Tatsache, dass die Person, die blieb, immer noch bedroht ist, hat sich nicht geändert. Ob man es nun Asyl nennt oder nicht, man muss feststellen, dass im Gespräch über „Flüchtlinge“ die meisten Menschen, die bedroht sind, beim Angebot von Schutz gar nicht erst in Erwägung gezogen werden. Und wie sich anhand des Umgangs mit Flüchtlingen aus der Ukraine erkennen lässt – etwa an der Zurückweisung von fliehenden, die an der Grenze nicht als „weiß“ angesehen werden, oder im Kontrast mit Flüchtlingen aus Irak, Afghanistan und Syrien welche vergangenen Winter an der Grenze zwischen Polen und Belarus von europäischen Behörden ermordet wurden – so wird offensichtlich, dass Rassismus bereits mit der Entscheidung beginnt, wer als Flüchtling anerkannt wird und wer nicht.
*Text von Jonas Dreher